Bericht über Anwerbeuntersuchungen





Bericht über Anwerbeuntersuchungen
Bericht von Dr. B. Weinrich - Betriebsarzt der Vöslauer-Kammgarn-Fabrik über die Anwerbeuntersuchungen in Banja Luka

1969, Archiv Wirtschaftskammer Österreich

Möllersdorf, 21.11.69

An die Direktion der
AG der Vöslauer Kammgarn-Fabrik
Bad Vöslau

Betrifft: Anwerbeuntersuchungen in Banja Luka am 17. u. 18.11.1969

Die Untersuchungen fanden in dem improvisierten Arbeitsamt ganz am Rande Banja Lukas statt, da das eigentliche Arbeitsamt durch das Erdbeben zerstört ist.
Es war bei unserer Ankunft für die Untersuchungen kein Raum bereitgestellt, es wurde jedoch für die ärztliche Untersuchungen ein großer Büroraum freigemacht und für die Testungen eine Ecke eines Speisesaales einer Kantine zur Verfügung gestellt.
Bei den notwendigen Vorbereitungen zur ärztlichen Untersuchung (Aufnahme der Personalien, der Anamnese, Niederschrift der erhobenen Befunde, Verdolmetschung usw.) halft mir Frau Spitzer von der öst. Anwerbestelle in Belgrad in ausgezeichneter Weise, während Dr. Bauer zeitweise von einem Psychologen des Arbeitsamtes in Banja Luka, der ganz gut Deutsch spricht, unterstützt wurde.
Am ersten Tag waren etwa 40 Frauen und Mädchen erschienen, von denen etwa die Hälfte unter und die Hälfte über 30 Jahre alt war. Entsprechend den Aufträgen der Firma wurden von mir zuerst alle Personen unter 30 Jahren untersucht, zuletzt jedoch auch einige Frauen über 30 Jahre. Die anderen wurden weggeschickt (etwa 15 Frauen).
Am zweiten Tag der Anwerbeuntersuchungen war ein völliger Leerlauf eingetreten, d.h. ein angesagter Omnibus aus der etwa 50 km entfernten Stadt Brsac traf nicht ein. Die Angaben des Leiters des Arbeitsamtes, der wiederholt versichert hat, der Omnibus sei laut telefonischer Auskunft abgefahren, verloren im Laufe des Tages zunehmend an Glaubwürdigkeit, da auch mit dem fahrplanmäßigen Omnibus niemand kam.
Nur den Bemühungen von Frau Spitzer ist es zu verdanken, dass wir an diesem zweiten Tag aus einer großen Gruppe von Mädchen, die sich für die Arbeit in einem jugoslawischen Radiowerk gemeldet hatten, ein einziges Mädchen untersuchen konnten.
Obwohl sich die Vertreter des Arbeitsamtes bedauerlicherweise nicht deklarierten, sondern ständig Ausflüchte vorbrachten, gewannen wir den Eindruck, dass man darüber ungehalten war, dass wir eine Auslese der angebotenen Arbeitskräfte durchführten und den größten Teil der über 30 Jahre alten Frauen wegschickten. Ich persönlich glaube, dass der Omnibustransport des zweiten Tages tatsächlich geplant war, jedoch nach telefonischer Rücksprache mit den vorgesetzten Dienststellen aus den oben genannten Gründen abgesagt wurde, wobei man es jedoch versäumte, uns reinen Wein einzuschenken. Am ersten Tag war man uns gegenüber ausgesprochen hilfsbereit und entgegenkommend, am zweiten Tag deutlich zurückhaltend und unaufrichtig. Die gewünschte Zahl von 40 Arbeitskräften hätten wir in Banja Luka – vorausgesetzt dass der Transport am zweiten Tage eingetroffen wäre- nur dann erfüllen können, wenn die Altersbegrenzung bei ca. 40 Jahren gelegen wäre und wenn es uns nicht untersagt gewesen wäre, Analphabeten in Erwägung zu ziehen. Diesbezüglich bin ich –wie ich schon nach meiner Fahrt nach Istanbul festgehalten habe- der Auffassung, dass man arbeitswillige und geeignete Analphabeten bzw. Teil-Analphabeten (um solche handelte es sich in Banja Luka hauptsächlich) aufnehmen sollte, da die von manchen Meistern geäußerten Ablehnungsgründe meines Erachtens der Tatsache nicht gerecht werden, dass gerade Analphabeten zwangläufig von gehobenen Arbeiten ausgeschlossen und daher für primitive manuelle Arbeiten schicksalsmäßig geradezu prädestiniert sind. Sollte es bei den meisten Arbeitsplätzen wirklich erforderlich sein, dass fünfstellige Zahlen gelesen werden können, so bin ich davon überzeugt, dass dieses Wissen den als ansonsten geeignet befundenen Arbeitskräften in wenigen Wochen durch betriebseigene Kurse beigebracht werden kann. Falls sich in Ausnahmefällen innerhalb der Probezeit das Gegenteil erweisen sollte, so wäre eine Rückführung in die Heimat ohne sonderliche finanzielle Belastung der Firma möglich.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch erwähnen, dass ich es nicht für richtig halte, die aus der Landwirtschaft stammenden Arbeitskräfte von vornherein als kaum in Frage kommend zu betrachten. Sicherlich wird man bei diesen eine verlängerte Anlernzeit in Kauf nehmen müssen, dafür aber nachher mit einem umso größeren Fleiß und größerer Betriebstreue rechnen können. Man muß ja bedenken, dass die Arbeitskräfte in der Landwirtschaft im In- und Ausland von Kindheit auf an Arbeit gewöhnt sind und dass gerade für solche Kräfte ein Unterkommen in einer großen Fabrik eine unerhörte Milieuverbesserung bedeutet, die sie unter keinen Umständen aufs Spiel setzen wollen. Freilich ist eine sorgfältige Selektion gerade bei diesen Kräften unerlässlich.
Auch die Altersgrenze von 30 Jahren halte ich persönlich für sachlich nicht gerechtfertigt, da die verlässlicheren und beständigeren Arbeitskräfte bei In- und Ausländern eher in den Jahrgängen über dreißig zu finden sind. Ich würde empfehlen, aus den vorhandenen Unterlagen der letzten Jahre eine Studie darüber ausarbeiten zu lassen, wie groß die Fluktuation bei jugoslawischen Arbeitskräften in den Altersgruppen von 18 bis 25, 26 bis 30, 31 bis 35 und über 36 ist, um diese Frage sachlich beurteilen zu können. Es ist durchaus denkbar, dass bei dem Entschluß, im Ausland zu arbeiten, bei Jugendlichen die Erwartung des Kennenlernens fremder Länder und die Flucht aus dem armen heimischen Milieu eine ebenso große Rolle spielt, wie bei älteren ausländischen Arbeitskräften der Wille, durch ihre Arbeit das Los der daheimgebliebenen Familienangehörigen zu verbessern.
Was die Organisation der Anwerbungen jugoslawischer Gastarbeiter für Österreich anlangt, so scheint diese auf ähnlich schwachen Füßen zu stehen, wie in der Türkei. Die Deutsche Bundesrepublik verfügt in Jugoslawien über einen sicherlich sehr gut ausgebauten Organisationsstab von angeblich mindestens 120 Personen, während Österreich lediglich durch zwei Kräfte vertreten ist, die ganz bestimmt auch dann, wenn sie sich nach besten Kräften bemühen, den notwendigen Vorbereitungen nicht gewachsen sind. Die unerlässliche Aufgabe dieser Kräfte wäre es, die potentiellen Arbeitsmärkte zu ergründen sowie die interessierten Arbeitskräfte einer Vor-Selektion zu unterziehen. Die Vertreter Westdeutschlands haben nach Angabe des früheren Landessanitätsdirektors für N.Ö., Hofrat Dr. Stremnitzer, in dieser Richtung weit vorausblickende gute Arbeit geleistet. Der Genannte ist übrigens gerne bereit, seine Kenntnisse auf diesem Gebiet unserer Firma bzw. der Bundeskammer zur Verfügung zu stellen.
Aus zeitlichen Gründen hatten wir nur eine sehr eingeschränkte Möglichkeit, das Ausmaß der Zerstörungen in der Stadt Banja Luka festzustellen. Von den 55.000 Einwohnern der Stadt ist sicherlich ein sehr erheblicher Teil in bewohnbar gebliebenen Häusern, Zelten und Wohnwagen behelfsmäßig untergebracht. Von den Hotels der Stadt ist kein einziges benützbar geblieben, eines muß ganz abgerissen werden. Viele ältere Häuser sind in sich zusammengebrochen, während die modernen Stahlbetonbauten relativ gut durchgehalten haben. Auch sie sind jedoch zum Teil gepölzt, auch das provisorische Arbeitsamt, in dem wir untersucht haben, ist innen gepölzt und weist große Defekte am Innenverputz auf. Nach Angabe der Leute des Arbeitsamtes sollen viele moderne Häuser innen beträchtliche Schäden haben, die man von außen nicht sehen kann. Die seinerzeit genannte Zahl von 40.000 Obdachlosen ist sicherlich maßlos übertrieben, doch erscheint es mir als unbestreitbar, dass sehr viele Familien durch den Verlust ihrer Häuser (das Privateigentum erstreckt sich ja in Jugoslawien auch wieder auf solche) und ihres gesamten Habes schwerstens betroffen sind. Für die Familien ist ein akuter Notstand sicher gegeben. Jedenfalls ist es gelungen, das Geschäftsleben in der Stadt wieder weitgehend zu normalisieren, auch die meisten Straßen sind wieder freigemacht und passierbar. Einen Einblick in die Verhältnisse in den Zeltlagern konnten wir nicht gewinnen, zumal unsere Zeit –abgesehen von der tatsächlich geleisteten Arbeit- durch vergebliches Warten in Anspruch genommen war.
Glücklicherweise mussten wir die zweite Nacht nicht wieder in Zagreb verbringen, sondern hatten durch die Vermittlung Frau Spitzers in dem wesentlich näheren Jaice (im bosnischen Erzgebirge) sehr gute Hotelunterkünfte erhalten. Eine Aussprache mit dem Leiter des dortigen Arbeitsamtes ergab, dass er bei rechtzeitiger Anmeldung in der Lage sei, 40 Mädchen bzw. Frauen bis zu 30 Jahren für Arbeit in Österreich zu gewinnen. Frau Spitzer wies jedoch ausdrücklich und mehrfach daraufhin, dass Anwerbungen am Beginn der allgemeinen Arbeitssaison (also im späteren Frühjahr) von vornherein zum Scheitern verurteilt seien. Etwaige Anwerbungen größeren Ausmaßes müssten also entweder noch im Herbst oder im Winter getätigt werden.
Zusammenfassend möchte ich meinen Eindruck betonen, dass das Land Österreich zwar eine ständig steigende Zahl von Gastarbeitern benötigt, deren Wert für die Produktion unschätzbar ist, jedoch nicht bereit ist, aus dieser Tatsache die nötigen Konsequenzen zu ziehen. Ich halte es für dringend erforderlich, die möglichen Arbeitsmärkte im Ausland durch österreichische Dienststellen sorgfältig zu analysieren und die für Österreich in Frage kommenden Arbeitskräfte in enger Zusammenarbeit mit den örtlichen Arbeitsämtern evident zu halten. Dazu bedarf es z.B. in Jugoslawien einer zentralen Dienststelle in Belgrad und je einer Expositur zumindest in den Provinzhauptstädten. Wird dieser Weg nicht beschritten, so wird die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte für Österreich immer schwieriger werden, zumal ja Westdeutschland mit seinen – in der Umrechnung bis zu 50% höheren Stundenlöhnen von vornherein sehr im Vorteil ist.
Schließlich möchte ich die Anregung geben, 10.000 bis 20.000 Werbeprospekte für die Firma in serbokroatischer Sprache drucken zu lassen. In diesen Prospekten sollten nicht nur (wie es in den deutschsprachigen Prospekten der Fall ist) Bilder aus der Fabrik selbst gezeigt werden, sondern auch ansprechende Farbbilder des Thermalstrandbades und des Kurparks in Vöslau. Die Klischees für letztere wird die Stadtgemeinde sicher gerne zur Verfügung stellen. In diesen Prospekten müsste auch versucht werden, den Fremdarbeitern vor Augen zu führen, dass nicht allein die Höhe des Stundenlohnes maßgeblich ist, sondern dass bei der Arbeit in Österreich gewisse Vorteile ins Auge springen, die z.B. Westdeutschland nicht aufweisen kann. Als Beispiele möchte ich nur anführen:
1. das ungleich billigeres Wohnen
2. die Ersparnisse an Fahrtspesen bei Heimaturlauben
3. die Möglichkeit häufigerer Heimaturlaube durch die geographische Lage.

Die deutsche Konkurrenz kann man nur durch aktive Maßnahmen begegnen. Das Schädlichste ist es, zuzuwarten, was die deutsche Konkurrenz für Österreich übrigläßt. Es müsste eine gezielte aktive Werbung einsetzen, gestützt durch eine gut eingearbeitete Organisation im Ausland.

Betriebsarzt

Ergeht an:
Gen. Dir. DDr. Mayer-Gunthof
Dir. Dr. Giessrigl
Dr. Kleemann
Dr. De Verrette
Dr. Bauer
Ablage Vöslau
Ablage Möllersdorf